Morgens 5.50 Uhr auf dem Weg zur Arbeit. Die Nachbarstadt liegt schon hinter mir, nur noch links und rechts, dann bin ich so gut wie fast am Ziel. Am Straßenrand steht ein Schild: Krötenwanderung. Kurz danach ein weites Schild: Wildwechsel. Außerorts sind hundert erlaubt, auf dem Tacho stehen achtzig. Ein Wagen überholt mich. Wie doof sind mache Menschen eigentlich? Da stehen Warnschilder, es ist dunkel und die rasen noch. Von vorne kommt ein weiterer Wagen. Im Licht seiner Scheinwerfer erkenne ich einen Schatten huschen: ein Reh. Reflexartig trete ich die Bremse bis aufs Bodenblech. Keine Chance. Es kracht. Es kracht ganz gewaltig. Mein Herz rast. Hundert Meter weiter ist eine Kneipe. Ich fahre auf den Parkplatz. Oh Sch***, was nun?
Die Bilanz - eine behaarte Stoßstange
Dem Dackel in seiner Box auf dem Rücksitz geht es gut. Da darf er mit zur Arbeit und dann so ein Schock am frühen Morgen. Er fiept wie immer, wenn das Auto steht und er nicht auf der Stelle zu einem Spaziergang raus darf. Kein Jaulen, keine verdächtige Stille. Zumindest etwas.
Die Arbeitskollegin mit der ich zu 6.00 Uhr verabredet bin ist nicht nur eine gute Freundin sondern auch Jägerin. Ein verunfalltes Reh und eine Jägerin, dass passt. Ich allein in finsterer Nacht, dass passt nicht. Zum Glück geht sie sofort ans Telefon und kann mit meiner Beschreibung etwas anfangen. Von ihr habe ich gehört wie mehrere Passanten und auch Polizisten um ein schwer verletztes und leidendes Reh stehen und keiner es erlöst. Wie soll ein Fluchttier mit zertrümmerten Gliedmaßen und inneren Verletzungen überleben? Ist es nicht humaner es zu erlösen, statt es leiden zu lassen, wenn man ihm nicht mehr helfen kann? Wie geht es dem Reh, dass mit dem Audi zusammen gestoßen ist?
Schon nach wenigen Minuten ist die Jägerin bei mir. Wie ich es von ihr kenne weiß sie was zu tun ist, behält einen klaren Kopf und ist total ruhig. Es tut gut jemanden an seiner Seite zu haben. Als erstes müssen wir die Polizei anrufen. Der Mann am Telefon ist sehr nett und schickt seine Kollegen zu uns. Wie geht es dem Reh? Wir ziehen unsere Warnwesten an. Im Auto haben wir eh welche, aber die für die Arbeit liegen ganz oben. Mit der Taschenlampe machen wir uns auf den Weg über den Fußweg an der Straße entlang in Richtung Unfallort. Liegt es hier noch? Ist es verletzt in den Wald geflohen? Lebt es oder ist es tot? Ein LKW fährt vorbei und es klackert laut. Nach etwa hundert Metern entdecken wir auf der anderen Straßenseite etwas.
Die Jägerin läuft hinüber. Das Reh ist tot. Wenigstens etwas. Der Magen liegt neben dem Reh auf der Straße. Es war augenblicklich tot und musste nicht leiden. Puh. Es ist ein Schmalreh. Also ein junges, weibliches Reh, dass noch keine Jungen hat oder erwartet. Keine Kitze, die verhungern. Puh. Die Jägerin zieht das Reh von der Straße. Es sollen nicht noch andere drüber fahren. Wir gehen zurück zum Auto.
Am nächsten Tag: Die wenigen Spuren auf der Straße
Der Dackel ist ruhig geworden. Er blickt auf als wir uns zum Aufwärmen setzen, schlummert dann weiter. Die Zeit schleicht dahin. Ein Polizeiauto biegt um die Kurve und hält neben uns. Wir beschreiben wo das Reh liegt. Die Polizei fährt wieder weg. Nach einer Ewigkeit kommen sie zurück, halten hinter uns. Wir steigen aus. Die Polizisten machen den Motor aus, dann geht die Heizung nicht, sie machen den Motor wieder an. Es ist winterlich kalt draußen. Die Polizisten stellen sich vor, die Namen behalte ich nicht. Sie fragen wann es passiert ist, wie es genau passiert ist. Sie sehen sich das Auto an. Fehlt da unten was? Tatsächlich: Die Blenden mit dem Tagfahrlicht sind weg. Das muss das Klackern gewesen sein, als der LKW vorbeifuhr. Führerschein, Personalausweis, Fahrzeugpapiere bitte. Waren wir beide im Auto? Nein. Was macht die Freundin hier? Sie war in der Nähe. Warum liegt das Reh schon an der Seite? (Mädchen machen sowas doch nicht.) Sie ist Jägerin. Ah, so schließt sich der Kreis.
Die Polizisten gehen zum Auto. Sie wollen einen Bericht schreiben. Sie fahren Richtung Unfallort davon. Wir stehen am Auto, reden, lenken uns ab. Es wird kalt und kälter. Sie kommen zurück. Sitzen im Auto, telefonieren. Die Polizisten steigen aus dem Auto aus. Geben mir meine Papiere zurück, erklären mir den Unfallbericht. Das Reh ist durch den Gegenverkehr von links gekommen, auf der Zeichnung kommt es von rechts. Das ist egal, sagt der Polizist. Ich soll mich an die Versicherung wende, die Teilkasko deckt das ab. Der Polizist verabschiedet sich. Wir gehen zu unseren Autos. Tief durchatmen. Einen Schluck Tee aus dem Thermobecher. Nochmal atmen. Dem Hund und mir geht es gut. Sehr gut. Das Reh lebt nicht mehr. Traurig. Es war sofort tot, musste nicht leiden. Wenigstens etwas. Es hat keine Jungen. Glück gehabt. Ich hab es genau mit der Ecke der Stoßstange erwischt, es ist nicht hoch gesprungen, es ist nicht auf der Scheibe gelandet. Puh. Die Jägerin hat mir versprochen, dass es nicht besser hätte laufen können, dafür dass es so sch*** gelaufen ist. Das macht es nicht gut, aber es tröstet. Ihr erstes Reh ist kein Unfall gewesen sondern wartet noch auf sie. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben.
Der fehlende Rest vom A4 mitsamt Tagfahrlicht.
Das ganze war am letzten Freitag. Mit etwas Abstand muss ich immer noch sagen, dass es komisch ist nachts über die Landstraße zu fahren. Gerade durch Wälder und an Wildwechselschildern vorbei. Ich habe meinen Führerschein im Sommer seit sieben Jahren und ich hatte nie Angst beim Fahren. Es war nicht mein liebstes Hobby, aber es war okay. Am Samstag Morgen musste ich wieder zur Arbeit. Zwar eine andere Strecke aber im Prinzip genau so. Zum Glück war keiner da, denn ich bin nur sechzig gefahren. Ob das so besser ist? Wäre ich langsamer gefahren, hätte sich das Reh dann nur verletzt? Sollte ich schreiben, dass ich es verletzt hätte? Dann hätte ich es ermordet. Ich esse Fleisch aber das hier ist anders, zumindest für mich. Auf dem Rückweg von der Arbeit bin ich an der Unfallstelle vorbei gekommen. Auf der Straße waren noch immer Flecken. Ein roter und ein brauner.
Ich hab das Reh nicht umgebracht. Es war ein Unfall. Einfach Pech, dass ich es erwischt habe und nicht das Auto in dessen Licht ich es gesehen habe. Es war schmal, zierlich. Mehr habe ich nicht erkannt. Danach habe ich es nicht mehr gesehen. Es war nicht wie in diesen Filmen wo das Reh auf der Straße steht und einen ansieht. Es geht alles so viel schneller. Es war keine Zeit zum Denken, nur zum Reagieren. Das Reh ist mir vors Auto gelaufen. Ich hätte nichts tun können um es zu retten. Es ist traurig aber es war einfach ein Unfall. Es ist tragisch aber niemand musste leiden.
Mal schauen was die Versicherung dazu sagt. Der Gutachter hat die Arbeit schon aufgenommen. Billig wird das sicher nicht. Aber was mich am meisten wurmt ist die Arbeit um neue Tagfahrleuchten zu bauen.
AntwortenLöschenComickus
Es tut mir ja auch leid. Und ja, als die Polizei das angesprochen hat war mein erster Gedanke, wie ich dir das schonend beibringen kann.
AntwortenLöschen